Virginia Paintings
Ingrid Floss: Was Malerei für mich bedeutet

7 1/2 Stunden dauert die Fahrt von New York nach Lynchburg, Virginia. Mein Koffer ist voll mit leeren Leinwänden, Malplatten und Papier. Die Ölfarbe habe ich mit der Post nach Virginia vorausgeschickt.
Am Anfang ist es schwer, in meinem neuen Atelier, in der fremden Umgebung, mit all den Schriftstellern, einigen bildenden Künstlern, einer Tänzerin aus den USA und einem Komponisten aus Argentinien um mich herum zu arbeiten. Schriftsteller, stelle ich fest, brauchen immer eine Geschichte, und wenn ein Bild, so wie meine Bilder, nichts Wiedererkennbares darstellt, sind sie ziemlich ratlos. Nicht der Komponist, der mit Tönen und verschiedenen Geräuschen gerade an einer Micro-Oper arbeitet. Er findet sofort Zugang zu meiner Malerei. Unsere Arbeitsweise und Gedanken sind verwandt. Ich fange an Farben zu setzen, so wie er unterschiedliche Klänge. Erst sind es einfach nur verschiedene Farbflecken, die noch keinen Zusammenhang haben. Es dauert eine Weile bis ein Bild entsteht. Langsam zeigen sich verschiedene Zentren und Schwerpunkte und andere Elemente, die wie Übergänge wirken. Die Bilder werden im Laufe des Prozesses dichter und komplexer. Sie verlieren ihre Ordnung und ihren Aufbau, um dann wieder zu einer neuen Ordnung zu finden und zur Ruhe zu kommen, damit das Bild am Ende zu einer Einheit wird, die ich so nicht hätte planen können. Mein Ziel ist, dass jedes Bild durch den ihm eigenen Farbklang, die räumliche Tiefe, den Pinselduktus usw. einen eigenen Charakter erhält. So entsteht ein Kosmos, der einen neuen Blick auf die Welt eröffnet. Man kann die Dinge nicht ablesen, wie bei einer Illustration oder einer gegenständlichen Malerei. Aber es steckt trotzdem alles, was ich erlebe, mit dem ich mich auseinandersetze, was ich höre und aufnehme, in den Bildern. Widergespiegelt in den Farben, in ihrer Dunkelheit und Helligkeit, in ihrer Intensität, in den Spannungen und harmonischen Zusammenklängen. Ich sehe das als Parallele zu meinem eigenen Leben und versuche die Wünsche und Sehnsüchte, die Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten, alles was in meinem Inneren brennt und arbeitet, zum Ausdruck zu bringen und habe meine eigene Sprache dafür entwickelt.

Bei einem Besuch von der Tänzerin aus Washington in meinem Atelier spricht sie darüber, dass es wichtig ist, mit ihrem Körper, ob er in Ruhe oder in Bewegung ist, eine Präsenz im Raum zu schaffen. Ein gutes Bild kann durch seinen eigenen Farbklang in den Raum „hinausstrahlen”, präsent sein im Raum. Dazu müssen die Farben in ihrem Vor- und Zurücktreten auf der zweidimensionalen Fläche zu einem Klang, zu einem harmonischen Ganzen zusammenwachsen. Jede Kleinigkeit ist dann von Bedeutung und jedes Element wichtig. Bei der kleinsten Veränderung gerät das Gleichgewicht wieder ins Wanken. Das Bild schafft aber auch einen eigenen Raum, in den der Betrachter hineinschaut. Es steht dann an zwei Orten gleichzeitig.

Mein Bedürfnis nach Harmonie, nach Schönheit, aber auch nach Lebendigkeit und Spannung, nach Gegensätzen, Überraschungen und Abenteuer spiegelt sich in meinen Bildern wider. In ihnen suche ich nach Antworten auf die Fragen: Wer bin ich, woher komme ich und zu welcher Kultur gehöre ich? Der Wunsch nach individuellen Ausdrucksmöglichkeiten, nach Vielfalt und Meinungsfreiheit - überhaupt nach Freiheit erfüllt sich für mich in der Kunst, in der Malerei. Meine Bilder sind nicht gemütlich, sie fügen sich nicht in den Raum ein wie eine schöne „Hintergrunddekoration”. Ich sehe sie als einen lebendigen Organismus, der mich immer wieder daran erinnert zu sehen, hinzusehen, aufmerksam zu sein, nicht einzuschlafen, nicht zu versinken, sondern präsent zu sein im Augenblick.